Mein Artikel heute in der FAS:
FEUILLETON
Unser Text ist machtlos
Die Sonne scheint, die Kinder schreien: Wie man die Wahrheit über den
Krieg in Gaza erzählt, wenn die Bilder lügen. Von Richard C. Schneider
Wie berichten von einem Konflikt, der inzwischen ein Krieg geworden
ist, wenn man über beide Seiten berichten muss? „Neutralität“ und
„Objektivität“ werden von uns Journalisten erwartet, doch im Alltag des
Nachrichtenproduzierens erweist sich dieses Ziel oft fast als
unerreichbar. Nicht weil wir Partei ergreifen – obwohl andere Kollegen
dies manchmal doch tun –, sondern weil wir mit drei Hindernissen
konfrontiert sind: die Macht der Bilder, die Propaganda von beiden
Seiten, die vielen verschiedenen „Wahrheiten“, die der
palästinensisch-israelische Konflikt beinhaltet, und nicht zuletzt die
Erwartungshaltung der Zuschauer daheim im sicheren Deutschland.
Das ARD-Studio Tel Aviv mit seinen Außenstellen in Gaza und Hebron ist
ein Biotop. Hier arbeiten Juden, Muslime und Christen zusammen,
Deutsche, jüdische Israelis, israelische Araber und Palästinenser. Wir
sprechen im Studio Hebräisch und Arabisch und Deutsch und Englisch. Wir
sind ein Team, zum Teil über Jahre und Jahrzehnte befreundet, wir
wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können. Nur so können wir
sicher sein, dass wir journalistisch saubere Arbeit machen können.
Ein Beispiel: Die ARD hat uns Korrespondenten angewiesen, aus
Sicherheitsgründen im Augenblick nicht nach Gaza zu gehen. Doch wir
haben ein palästinensisches Team dort. Wir sind im ständigen
telefonischen Kontakt, bestellen Storys, Bilder, Informationen, die wir
dann im Studio zu Stücken zusammenstellen. Wir wissen, dass unser Team
Bilder nicht manipuliert, Informationen nicht fälscht. Nur auf diese
Bilder können wir uns verlassen, nur bei diesen Bildern wissen wir, dass
sie das zeigen, was wir sehen. Die Erfahrung aus den anderen Kriegen in
Gaza hat gezeigt, dass Agenturmaterial, das aus Gaza kommt, häufig von
der Hamas zensiert wird. Bilder, die der Hamas nicht genehm sind, werden
nicht zugelassen (und Bildmaterial, das Menschen via Handy auf Twitter,
Facebook oder Youtube ins Netz stellen, ist sowieso nie verifizierbar).
Als Israel 2008 behauptete, die Hamas-Kämpfer würden in Zivil
herumlaufen und somit sei die Zahl der Opfer manipuliert, weil es sich
dabei nicht nur um Zivilisten, sondern auch um Hamas-Kämpfer handelt,
war dies für uns erst dann nachweisbar, als wir von unserem Kameramann
heimlich gedrehte Bilder erhielten, die zeigten, wie tatsächlich
Hamas-Kämpfer in normaler Kleidung ihre Kalaschnikows unter der Jacke
versteckten.
Und doch bleiben auch bei unseren Bildern Fragen:
Wir sehen eine zerstörte Moschee, ein umgestürztes Minarett – und
natürlich ist das Entsetzen, dass ein Gotteshaus zerbombt wurde, die
beinahe automatische Reaktion, auch bei uns. Doch dann müssen wir uns
fragen: Waren in der Moschee Waffen gelagert oder nicht? Wir wissen,
dass in Moscheen Waffen gelagert werden, es gibt Belege. In diesen Tagen
erleben wir Angriffe der Israelis (die manchmal sagen, es seien Raketen
der Hamas gewesen – und so steht erst einmal Aussage gegen Aussage) auf
UNRWA-Schulen mit entsetzlichen, grauenvollen Bildern: Blut, schwer
verletzte Babys, schreiende Kinder vor den Leichen ihrer Eltern. Auch in
uns Journalisten regen sich zunächst Wut und Verzweiflung, Entsetzen
und Trauer. Doch wir wissen auch, dass in zwei Schulen Raketen der Hamas
gefunden wurden, das bestätigte die UNRWA selbst. Wie also ist dieser
Angriff dann zu werten? Rechtfertigt die Tatsache, dass an diesem Ort
möglicherweise tödliche Waffen versteckt wurden, die Israelis umbringen
sollen, zivile palästinensische Opfer? Gelten in einem asymmetrischen
Krieg noch die Regeln und Gesetze konventioneller Kriege?
An
diesem Beispiel wird das Dilemma, in dem wir uns befinden, besonders
deutlich. Wir müssen unsere eigenen Gefühle zurückstellen. Das wird mit
zunehmender Dauer des Krieges, mit den immer schrecklicheren Bildern,
die wir tagtäglich sehen, ungefiltert, ungeschnitten, immer schwieriger.
Wir müssen versuchen, all die bewusst gestreuten Falschinformationen
und unzuverlässigen Informationen abzuwägen. Wir müssen gleichzeitig
immer wieder die Beweggründe beider Seiten einbeziehen, erklären,
vermitteln. Diese Aufgabe ist für uns Fernsehjournalisten wesentlich
problematischer als für die Kollegen der Printmedien. Denn wir wissen:
Unser Text ist gegen die Macht des Bildes so gut wie machtlos. Der
Zuschauer sieht das schreiende Kind vor der Leiche seines Vaters – und
hört nicht mehr zu. Er sieht umgekehrt verschreckte Israelis, denen es
im Vergleich zu Gaza gut geht und denkt: Was regen die sich so auf, es
geschieht ihnen doch fast nichts. Und er vergisst, dass es dafür auch
Gründe gibt: das Abwehrraketensystem, das die israelische Regierung
entwickelt hat, Bunker in jedem Haus et cetera. Wohingegen die Hamas
ihre Bevölkerung als menschliche Schutzschilde einsetzt und missbraucht.
Das Bild aber, das unmittelbare Bild, das der Zuschauer zu sehen
bekommt, vermittelt nicht die Angst der Israelis. Da wird sogar das
Wetter zum Problem, gerade für die israelische Seite: Die Sonne scheint,
die Bäume sind grün, die Häuser sind mehr oder weniger unbeschädigt –
wo ist das Problem? Die Bilder zeigen nicht, was es vor allem im
Grenzgebiet bedeutet, seit Jahren mit dem Code Red Alarm leben zu müssen
und dann nur zwischen 15 und 40 Sekunden Zeit zu haben, sich in einen
Schutzraum zu flüchten. Allein in einem Städtchen wie Sderot rund 1000
Mal pro Jahr. Da hilft es dann auch nichts, auf der Polizeistation des
Ortes die eingesammelten und aufgereihten Raketen zu filmen, die in den
vergangenen Jahren auf Sderot niedergingen – es sind abstrakte Bilder,
die dem verzweifelten, entsetzten Gesicht des palästinensischen Kindes
nichts entgegenzusetzen haben.
Wie also texten? Wie gegen die
Macht der Bilder, aber auch gegen die Urteile und Vorurteile der
Zuschauer in Deutschland antexten? Gegen die Islamophoben und
Islamophilen, gegen die Antisemiten und Philosemiten, gegen all
diejenigen, die nie im Nahen Osten waren, aber über den
palästinensisch-israelischen Konflikt mitreden und glauben urteilen zu
können in einem Ausmaß, wie es bei keinem anderen Konflikt auf dieser
Welt der Fall ist? Machen wir uns nichts vor: Ein Konflikt, bei dem
Juden mit im Spiel sind, wird in Deutschland per Reflex anders
wahrgenommen als ein Krieg zwischen Muslimen oder zwischen Christen. Und
wir wissen natürlich, wie die Zuschauer reagieren: Viele sehen und
hören nur, was sie sehen und hören wollen. Die typischsten Fälle sind
die, wo ein und derselbe Beitrag von Zuschauern als prozionistisch
beziehungsweise propalästinensisch gewertet wird, die ärgerlichsten sind
Beschimpfungen für Dinge, die man gar nicht gesagt hat – der Zuschauer
aber angeblich „gehört“ haben will. In solchen Fällen kann man nichts
tun, außer versuchen in der eigenen Sprachwahl präzise zu sein.
Dass dies nicht immer gelingt, ist angesichts unserer Arbeitsbelastung
klar. In den Wochen, in denen die ARD das „Morgenmagazin“ macht, beginnt
unser Tag oft um fünf Uhr, sonst um sechs oder sieben, oft dauert er
bis nach Mitternacht. Im Stundentakt produzieren wir Stücke, für
„Morgenmagazin“, „Mittagsmagazin“, „Tagesschauen“, „Tagesthemen“,
„Nachtmagazin“. An manchen Tagen im Krieg habe ich bis zu 30
Live-Schalten, denn wir bedienen auch noch Tagesschau24, Phoenix und die
Dritten Programme. Zusätzlich twittern wir, produzieren Videoblogs,
machen Sondersendungen. Seit sechs Wochen arbeiten wir eigentlich rund
um die Uhr, seit der Entführung der drei israelischen Jugendlichen im
Westjordanland. Diese „Story“ erscheint schon in weiter Ferne, denn
seitdem haben sich die Ereignisse dermaßen überschlagen, sind wir
dermaßen gehetzt von einer zur nächsten Geschichte „unterwegs“, von
einem entsetzlichen Geschehen zum nächsten, von einem gescheiterten
Waffenstillstand zum nächsten, dass wir alle das Gefühl für Zeit
verloren haben. Wir sehen unsere Familien so gut wie gar nicht mehr,
vier, fünf Stunden Schlaf sind das Maximum, das Team ist die
Ersatzfamilie, wir sitzen in einem Boot und produzieren wie am
Fließband.
Und manchmal sind wir sogar in Gefahr. Das Team in
Gaza ganz gewiss. Als Studioleiter habe ich die Verantwortung für das
Wohlergehen der Mitarbeiter. Doch welches „Wohlergehen“ gibt es in Gaza?
Mitten im Bombenhagel ohne Bunker oder Schutzräume? Ich überlasse es
daher meinen palästinensischen Kollegen und Freunden, zu entscheiden,
wann sie wo drehen wollen – oder eben nicht. Weil sie sagen, es sei zu
gefährlich oder weil sie in den Nächten daheim sein wollen bei ihren
Frauen und Kindern, um im schlimmsten Fall gemeinsam zu sterben. Und so
sind wir jeden Morgen froh, am Telefon wieder ihre Stimmen zu hören.
Und wir auf der israelischen Seite? Inzwischen reichen die Raketen bis
nach Tel Aviv, die Sirenen heulen regelmäßig, dann hören und sehen wir
die Explosionen. Manchmal aber, wie vor ein paar Tagen, heulen die
Sirenen nicht. Dann erschrecken wir, wenn wir unerwartet eine Explosion
hören. Die Raketen, die in Deutschland gerne als „selbstgebastelt“
verharmlost werden, sind längst gefährliche Waffen, die töten würden,
massiven Schaden anrichten würden, wenn es das Abwehrsystem „Iron Dome“
nicht gäbe. Und dennoch: Wenn wir unmittelbar an der Grenze zu Gaza
stehen und der Alarm losgeht, dann haben wir gerade mal 15 Sekunden
Zeit, uns in Deckung zu begeben. Im freien Feld ist das ein Problem. Wir
werfen uns auf den Boden, versuchen uns hinter irgendwelchen
Steinbrocken zu verstecken, warten auf den Einschlag und noch ein
bisschen länger, um nicht danach von Granatsplittern getroffen zu
werden. Danach stehen wir wieder auf und machen weiter, sehen, keinen
Kilometer von uns entfernt, Rauchsäulen, sehen und hören Explosionen,
Bombardement.
Es wirkt wie im Kino, aber wir wissen: Da sterben
Menschen und wir können nichts tun. Außer berichten, immerzu weiter
berichten. Nach bestem Wissen und Gewissen.
Der Autor ist ARD-Korrespondent in Israel.