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Mittwoch, 3. Juli 2013

Studie über Vorurteile Osnabrücker Studenten schockt Uni-Verantwortliche

Antisemitische Gesinnungen

Studie über Vorurteile Osnabrücker Studenten

Osnabrück. Wie viele Studenten distanzieren sich von übelsten antisemitischen Aussagen? Bei einer gemeinsamen Studie der Universität Osnabrück und der kanadischen University of Victoria waren es erschreckend wenige. Studienleiter und Uni-Verantwortliche zeigen sich schockiert. 

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Wassilis Kassis hat sich fast geschämt, seinen Studienteilnehmern Aussagen wie diese vorzulegen: „Deutsche Frauen sollten keine Juden heiraten.“ Wie hoch wäre der Anteil unter Osnabrücker Studenten, die solchen Statements zustimmen oder sie zumindest nicht völlig von der Hand weisen? Laut einer Untersuchung des Erziehungswissenschaftlers sind es 40 Prozent. Dieselben Aussagen bekamen auch Studenten der kanadischen Universität von Victoria – und im Schnitt kreuzten sie dasselbe an. An beiden Unis lehnten nur rund 60 Prozent die vorgelegten Antisemitismen kategorisch ab.
Die Studie ist laut Wassilis Kassis und seiner kanadischen Kollegin Charlotte Schallié die erste, die in großem Umfang und im internationalen Vergleich soziale Vorurteile von Studenten untersucht. Neben antisemitischen Statements prüften die beiden Studienleiter unter anderem anti-muslimische und ausländerfeindliche Stereotype. Das Ergebnis: Rund 80 Prozent der Befragten pflegen in unterschiedlicher Ausprägung anti-muslimische Vorurteile; gegenüber Ausländern tun das sogar 90 Prozent.
Im Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung macht Wassilis Kassis die politische Theoretikerin Hannah Arendt zur Gewährsfrau für eine ungewöhnliche Deutung seiner Zahlen. Denn Kassis rechnet die Befragten, die hinter einer judenfeindlichen Aussage „Stimmt eher nicht“ angekreuzt haben, ebenfalls zu den Studenten mit antisemitischen Tendenzen. Zusammen mit den Studienteilnehmern, die auf die üblen Statements „stimmt eher“ oder „stimmt völlig“ geantwortet haben, bilden sie die eingangs erwähnten 40 Prozent.
Doch was hat Hannah Arendt damit zu tun?
Kassis sagt, Arendt habe in einem Interview beschrieben, wie sich nach Hitlers Machtübernahme auch ihre intellektuellen Freunde gewisse judenfeindliche Vorstellungen zu eigen machten. Wenn sie dadurch auch nicht zu überzeugten Antisemiten wurden – ihre neue Haltung habe für die Gesellschaft einen Deichbruch bedeutet.
„Ich nenne so etwas geistige Derangierung“, sagt Kassis. „Wir normalisieren so das bislang Undenkbare.“
Diese Derangierung erkennt Kassis nun bei den Studenten wieder, die hinter einem Statement wie „Es sollten weniger jüdische Einwanderer nach Deutschland gelassen werden“ ihr Kreuz bei „Stimmt eher nicht“ machen. Wohlgemerkt: Kassis glaubt nicht, das Vierte Reich stünde vor der Tür. Er will darauf aufmerksam machen, dass auch Bildungsbürger je nach Zeitgeist die extremsten und dümmlichsten Vorurteile aufnehmen.
Laut Kassis würden außerdem viele Forscher Antisemitismus als Einfallstor für menschenverachtende Einstellungen betrachten. Hier liegt der zweite Grund dafür, dass der Erziehungswissenschaftler die „Stimmt eher nicht“-Ankreuzer für potenzielle geistige Brandstifter hält. Denn in seiner Untersuchung sind diese Studenten deutlich anfälliger für die übrigen Stereotype. Anti-muslimischen Vorurteilen etwa stimmen sie im Schnitt fünfmal häufiger zu.
Was das praktisch bedeutet, schilderte Martina Blasberg-Kuhnke bei der Vorstellung von Kassis‘ Studie. Die Theologin und ehemalige Vize-Präsidentin der Universität Osnabrück hat das Institut für Islamische Theologie mit aufgebaut. Damals hätten sich viele Studentinnen im Gleichstellungsbüro beschwert, weil plötzlich eine voll verschleierte Kommilitonin über den Campus lief. So was würden sie nicht wollen, das sei sexistisch. „Die arabische Studentin meinte im Gespräch mit mir, wie weh ihr das tue“, sagte Blasberg-Kuhnke.
Doch nicht nur unter den Studenten hat Blasberg-Kuhnke Vorurteile gegenüber Muslimen erfahren. „Auch viele Kollegen meinten – , wenn auch etwas seriöser formuliert: Eigentlich wollen wir die nicht.“
Wenn man den Wissenschaftler Wassilis Kassis fragt, was die Gründe für diese Haltung sind, schüttelt er den Kopf. „Das wissen wir nicht mit letzter Sicherheit.“
Der Privatmann Wassilis Kassis allerdings hat eine Erklärung: „Man kann heute eine liberale Haltung haben und trotzdem soziale Vorurteile pflegen.“
So erschreckend die Ergebnisse der Studenten-Befragung sind – Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung kommen praktisch zu denselben Resultaten. „Wirklich beruhigend ist das allerdings nicht“, sagt Kassis. Um seine Resultate zu überprüfen, will der Erziehungswissenschaftler die Untersuchung bald an anderen Universitäten wiederholen.
Obwohl in der aktuellen Studie fast ausschließlich Sprach- und Sozialwissenschaftler befragt wurden, hält Kassis die Untersuchung für repräsentativ. „Wir haben in der Osnabrücker Stichprobe 1000 Bachelor-Studenten. Das ist jeder Siebte.“
Für die Universitäten in Osnabrück und dem kanadischen Victoria scheint die Studie ein Weckruf gewesen zu sein. Wassilis Kassis und seine Kollegin Charlotte Schallié haben mit beiden Präsidien erste Gespräche darüber geführt, wie man die Vorurteile unter den Studenten abbauen könnte.
Als die Untersuchung an der Universität Osnabrück vorgestellt wurde, zeigten sich alle Redner reichlich erschüttert. Am deutlichsten wurde der für Studium und Lehre zuständige Vizepräsident Joachim Härtling: „Das junge ausgebildete Bürgertum zeigt dieselben Einstellungen wie der Rest. Da muss man sich doch fragen: Wo sind wir hier eigentlich?“

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