Narzisstische Gesellschaften
Auf der kulturellen Ebene wird einer als "narzisstisch" diagnostizierten Gesellschaft vorgeworfen, sie propagiere Werte des Eigennutzes unter Vernachlässigung von Werten des Gemeinnutzes. Die in einer solchen Kultur lebenden Menschen bräuchten eine willentliche Entscheidung oder alternative Vorbilder, um nach Werten zu handeln, die nicht im Rahmen gesellschaftlich akzeptierter Verhaltensnormen und Werte liegen und eine Einbuße gewisser Privilegien zur Konsequenz haben. Darüber hinaus werden auch Prominenz und Berühmtheit als narzisstische Phänomene soziologisch analysiert.[20] [21][22]Im Jahr 1979 unterbreitete Christopher Lasch mit seiner Monografie The culture of narcissism: American life in an age of diminishing expectations, die These, dass sich die amerikanische Gesellschaft und Kultur zunehmend durch narzisstische Tendenzen auszeichnen würde: Er konstatiert eine narzisstische Kulturrevolution, die, ursprünglich im Zeichen der Überwindung repressiver Gesellschaftsstrukturen angetreten, ihrerseits in die Sackgassen eines hedonistischen Individualismus und einer therapeutischen Gesellschaft führe. Hier trete das Ideal der Selbstverwirklichung schließlich anstelle von Bindungsfähigkeit, Generativität und Verantwortung für die Zukunft.[23]
Auch Hans-Joachim Maaz, seit 40 Jahren praktizierender Psychiater und Psychoanalytiker, stellt diesbezüglich in seinem Buch 'Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm' ein Bündel von Thesen auf: Die westlichen Konsumgesellschaften seien demnach orientierungslos, von Gier getrieben und in das geraten, was er 'Narzissmus-Falle' nennt. Diese Gier („den Hals nicht voll kriegen können“) sei die tiefere Ursache von Krisen in deren Finanz- und Gesellschaftssystemen. Diese Krisen könnten nur überwunden werden, wenn man Mittel und Wege finde, den Narzissmus und die ihm zugrunde liegende Bedürftigkeit zu zähmen.
Maaz zeigt, dass Gier (sei es nach Geld oder anderen Lebensvorteilen) Ausdruck einer narzisstischen Störung ist. Der narzisstische Mensch ist im Kern ein um Anerkennung und Bestätigung ringender, stark verunsicherter Mensch. Diese narzisstische Kompensation bedarf ständig erweiterter Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion. Gier sei keine spezifische Charaktereigenschaft etwa von Bankern oder lediglich eine Folge falscher Anreize, sondern ein zentrales Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit der meisten Bürger der westlichen Konsumgesellschaften. Bei den Trägern gesellschaftlicher Macht (Politikern, Managern und Stars) sei sie besonders ausgeprägt und verbreitet.[24]
Narzissmus in Kultur und Gesellschaft
Der Umbruch gesellschaftlicher Leitvorstellungen in den sechziger Jahren betraf auch die Bewertung und Einschätzung des Narzissmus. Dieser Wandel war theoretisch vorbereitet in der kritischen Theorie der fünfziger Jahre. Die Narzissmus-Debatte innerhalb der Psychoanalyse (Kohut-Kernberg-Kontroverse) reflektierte die allgemeine gesellschaftliche Auseinandersetzung um Autorität, Anerkennung und Identität. Äußere Repression gegen "innere" Verdrängung war das Leitthema der Zeit.[15]Philosophie
Die Freudrezeption der Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer suchte psychoanalytisches Denken für kultur- und gesellschaftskritisches Denken fruchtbar zu machen.[16] So erfuhr der Narzissmus bei Herbert Marcuse eine folgenreiche Um- und Neubewertung: Seine Rehabilitation des Narziss in Triebstruktur und Gesellschaft (orig. Eros and Civilisation von 1955) hatte großen Einfluss auf die Studentenbewegung und die gesellschaftlichen Umbrüche der sechziger Jahre. Narziss wird bei Marcuse zum neuen Leitbild einer erosfundierten Kultur, die dem angepassten Ödipus und dem prometheischen Leistungsprinzip althergebrachter Zivilisation gegenübergestellt wird: Er mutiert in seinem Entwurf zur greifbaren Utopie einer von überflüssiger Repression (Surplus repression) befreiten Gesellschaft im Zeichen des Lustprinzips.[17]Als Psychoanalytiker und Sozialphilosoph übertrug Erich Fromm in kritischer Auseinandersetzung mit Freud die psychoanalytischen Begriffe vom Individuum auf die Gesellschaft. Er bezeichnete Narzissmus als Gegenpol zur Liebe und unterschied neben dem Narzissmus des Einzelnen auch den Gruppennarzissmus (siehe Patriotismus oder Fanatismus). Narzissten neigen laut Fromm dazu, einen Bezug zu ihrer Umwelt dadurch zu gewinnen, dass sie Macht über sie erlangen.[18] In Die Kunst des Liebens(orig. 1956) unterscheidet er Selbstliebe als produktive Form des Narzissmus von Selbstsucht als destruktivem Narzissmus: Freud folge der im westlichen Denken tradierten, calvinistischen Vorstellung, die beide Formen ohne weiteres in eins setze: Selbstliebe sei die schädlichste Pestilenz (Calvin). Fromm beruft sich in seiner differenzierenden Auffassung auf das biblische Gebot der Nächstenliebe:
Selbstsucht als destruktiver Narzissmus sei im Gegenteil gerade Zeichen mangelnder Selbstliebe und zuletzt des Selbsthasses. Unfähig Freude an sich und seiner Kreativität zu empfinden, betrachte der selbstsüchtige Narzisst die Welt nur als Gelegenheit egoistischer Vorteilsnahme und eigensüchtiger Ausbeutung. [19]„Die Liebe zu anderen und die Liebe zu uns selbst stellen keine Alternativen dar; ganz im Gegenteil wird man bei allen, die fähig sind, andere zu lieben, beobachten können, daß sie auch sich selbst lieben.“– Erich Fromm: 1956
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